Text des Monats Dezember

Es dämmerte schon früh an jenem Dezembernachmittag. Wolken hatten sich über die Sonne geschoben. Gelbgraue, tief hängende Schneewolken.
Langsam schlich die Frau um das Gebäude. Leise. Vorsichtig. Sie sah sich um. Nein, da war niemand. Kein Mensch hatte sie gesehen. Sie griff zur Türklinke, hielt für einen Moment den Atem an, dann jubelte sie leise, fast unhörbar, auf. Sie hatte Glück. Die Tür war nicht verschlossen.
Noch einmal blickte sie den Weg, den sie gekommen war, zurück. Eine fast feierliche Stille lag über dem Friedhof, der am Hang über dem Mittelgebirgsdorf lag und die kleine Dorfkirche umsäumte. Hier und da schimmerten Kerzenlichter auf Gräbern, machten das Dunkel freundlich.
Tief atmete sie noch einmal durch, dann betrat sie die Kirche. Zwei Kerzen am Altar erhellten den kleinen Raum nur schwach. Sie legte ein paar Münzen auf den Altartisch, entzündete weitere Kerzen, nahm zwei und stieg die schmale Holztreppe hinauf zur Empore. Eine Weile blieb sie stehen, sah zum Altar hinunter und atmete die Stille des Raumes ein.
Sie liebte diesen Moment. In jedem Jahr wieder. Und sie spürte, wie der Stress der vergangenen Monate bedeutungslos wurde. Wie all die Sorgen, die ihr in den letzten Jahren so zusetzten und ihr das Leben zuweilen so unliebenswert erscheinen ließen, an Wichtigkeit verloren. Nur noch Stille und Friede umgaben sie.
„Endlich!“, murmelte sie und lächelte. Dann wandte sie sich um, setzte sich an die Orgel, drückte den Schalter auf „Ein“, legte die Hände auf die Tasten, stellte die Füße auf die Pedale, wartete, kostete jenen Moment des Innehaltens aus, spürte, wie die Freude zu ihr zurückkam.
Dann begann sie zu spielen. Bach. Toccata und Fuge d-Moll. Und die Weihnachtszeit war – für sie – nun endlich gekommen. Die Weihnachtszeit … und das Leben. Heimlich. Leise. Im Zauber der Klänge.

© Elke Bräunling


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